Afghanistan ist durch schwache staatliche Strukturen und jahrzehntelange kriegerische Auseinandersetzungen geprägt. Familie und der Clan sind besonders wichtig. Zudem spielt Religion, hier der sunnitische Islam, eine wichtige Rolle. Welche Bildungschancen haben die Menschen in Afghanistan haben und wie sieht es auf dem lokalen Arbeitsmarkt aus? Mehr in dieser Lektion.

Letzte Aktualisierung: Mai 2020

Quiz „Vier Fakten und eine Lüge“ – Afghanistan

Was wissen Sie bereits über Afghanistan? Welche der folgenden Aussagen ist falsch? Wählen Sie aus.

Geflüchtete aus Afghanistan

Anzahl der Asylanträge, die im Jahr 2018 in der Bundesrepublik gestellt wurden:
9.942 (Stand November 2019, Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge)  
Hauptaufnahmeländer:
Pakistan, Iran (Stand Juni 2019, Quelle: UNHCR – The UN Refugee Agency)
Anzahl der Binnenvertriebenen:
Laut UNHCR circa 2,1 Millionen (Stand Juni 2019 – Quelle: UNHCR Global Focus – The UN Refugee Agency); Laut IDM circa 1,3 Millionen (Stand Dezember 2017 – Quelle: IDM – Internal Displacement Monitoring Centre
Wird Afghanistan als sicheres Herkunftsland eingestuft?
Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich seit Anfang 2015 kontinuierlich verschlechtert. Insgesamt sollen neben den Taliban circa 20 als terroristisch eingestufte Organisationen auf afghanischem Territorium präsent sein. Afghanistan wird – entgegen manch gegenläufiger Darstellung – von der Bundesregierung nicht als sicheres Herkunftsland eingestuft!    

Wie funktionieren der Staat und das Zusammenleben in Afghanistan?

Das Leben vieler Menschen wird insbesondere auf dem Land kaum von staatlichen Strukturen berührt. Im ländlichen Milieu, aber auch in den Städten, verknüpfen die meisten Menschen den Staat vor allem mit Besteuerung, Abgaben, Beamtenwillkür und Korruption. Andererseits wünschen sich viele Afghaninnen und Afghanen einen starken Staat. Dieses zwiespältige Verhältnis gegenüber dem Staat wird unter Umständen von Geflüchteten in die neue Heimat mitgenommen und nur langsam abgelegt.

Der Durchsetzungskraft des Staates sind in Afghanistan aufgrund der Geographie und der starken Ausprägung von Einzelinteressen enge Grenzen gesetzt. Denn in zahlreichen Provinzen und Distrikten, in die der afghanische Staat aufgeteilt ist, identifizieren sich die Menschen mit den Talschaften (das heißt ländliche Verbände in Gebirgsgegenden), Stämmen, verschiedenen Volksgruppen und religiösen Gemeinschaften. Aus diesem Grund war die Zentralmacht stets auf die Zusammenarbeit mit Stammesführern, Großgrundbesitzern, Dorfvorstehern und religiösen Würdenträgern angewiesen. Mit dem seit 1978 einsetzenden Krieg wurde diese dörfliche Oberschicht teilweise durch militärische Anführer ersetzt. Die lokalen Eliten banden die landlose Bevölkerung in eine Ordnung ein, die auf Austausch (zum Beispiel Kredite und Land gegen Arbeitskraft) und Loyalität basierte. Die Bedeutung persönlicher Kontakte oder Abhängigkeitsverhältnisse zu einflussreichen Personen ist daher hoch.
 

Afghanisches Dorf in der Provinz Badakhshan © Andreas Wilde

Heutzutage wirkt sich das im Alltag der Afghaninnen und Afghanen etwa bei der Arbeitssuche aus: Da es beispielsweise kein Arbeitsamt gibt, nimmt man häufig die Vermittlung von militärischen Anführern, einflussreichen Lokalfürsten, Familienvorstehern oder Community-Ältesten in Anspruch, um eine Arbeit zu finden. Auch wenn man einen Kredit benötigt, wendet man sich häufiger an einen Verwandten oder lokalen Repräsentanten als an eine Bank.

Das Verständnis von Autorität und Herrschaft ist also durchweg an Personen und weniger an staatliche Instanzen (zum Beispiel Einwohnermeldeämter, Gerichte) gebunden. Es ist in Afghanistan immer noch üblich, bestimmte Ämter gegen Geld zu kaufen. Das ermöglicht es dem Amtsinhaber, Bestechungsgelder einzustreichen, über die Vergabe von Posten und Bauprojekten zu entscheiden sowie Ansehen und politischen Einfluss zu erlangen. 

Daher lässt sich die afghanische nur schwer mit der deutschen Verwaltung vergleichen. Zahlreiche Menschen geben einen beträchtlichen Teil ihres Jahreseinkommens in Form von Bestechungsgeldern aus. Viele in Deutschland gängige Routinevorgänge wie Antragstellung oder Einspruchsverfahren sind in Afghanistan unüblich. Es werden nur selten Dokumente wie Geburts-, Heirats- oder Sterbeurkunden ausgestellt. In vielen Dörfern war es lange Zeit nicht gängig, ständig Ausweispapiere (tazkiras) bei sich zu haben. Die Anlage von Aktenordnern in Privathaushalten etwa zur Aufbewahrung von Dokumenten ist ebenfalls unbekannt.   

Wichtig für Ihre ehrenamtliche Tätigkeit:
Es ist für Sie als Ehrenamtliche*r sinnvoll, geflüchtete Personen aus Afghanistan schrittweise an das deutsche Verwaltungssystem heranzuführen. Afghaninnen und Afghanen kommen aus einem kulturellen Kontext, in dem die mündliche Kommunikation wichtiger ist als Schriftdokumente. Machen Sie Geflüchteten daher die Bedeutung von Dokumenten, wie Geburtsurkunden, Personalausweis oder Sozialversicherungsschein, in Deutschland bewusst. Sie sollten auch darauf hinweisen, dass wichtige Behördenbriefe einige Jahre aufzubewahren sind, selbst wenn ein Verwaltungsakt (wie ein Gerichtsverfahren oder die Aufnahme in die Krankenversicherung) abgeschlossen ist. Geburtsurkunden und ähnliche Dokumente werden von den afghanischen Konsulaten ausgestellt. 

Welche Rolle spielt die Familie in Afghanistan?

Aufgrund fehlender staatlicher Strukturen in Bereichen wie Krankenversorgung und Altersabsicherung kommt der Familie eine wichtige Rolle zu:  

  • Die Familie beschützt den Einzelnen, sorgt für die schwächeren Mitglieder und bietet Geborgenheit.  
  • Gleichzeitig werden der Alltag sowie Riten und Feste, besonders zu bestimmten Lebensabschnitten (Namensgebung, Beschneidung, Hochzeiten, Beerdigungen), im Familienbund organisiert.  

Verwandtschaft und besonders Blutsverwandtschaft sind daher sehr wichtig. Dies zeigt sich auch in der Bezeichnung von Verwandtschaftsbeziehungen: So wird nicht nur zwischen Bluts- und angeheirateten Verwandten, sondern auch nach der väterlichen und der mütterlichen Seite unterschieden. Für Wörter wie Onkel, Tante oder Cousin gibt es daher in Afghanistan mehrere Entsprechungen. 

Innerhalb der Familie gelten oft bestimmte Rangordnungen, die durch das Lebensalter geprägt sind. Älteren Menschen wird besonderer Respekt entgegengebracht, sie werden nur selten direkt und vehement kritisiert. Außer in der Hauptstadt Kabul sind Frauen meist nicht berufstätig, kontrollieren jedoch häufig das Haushaltsgeld. Ihr sozialer Aufstieg innerhalb der Familie wird vor allem über die Geburt von Söhnen gesichert. 

Wichtige Entscheidungen werden gemeinsam oder von den Familienoberhäuptern getroffen. Junge und unverheiratete Familienmitglieder haben oft nicht die gleichen Mitspracherechte. Die meisten jungen Afghaninnen und Afghanen würden sich nie von der Familie abnabeln oder von den Eltern emanzipieren. Es kommt in der Regel auch nicht in Frage aus- oder in eine weit entfernte Stadt zu ziehen. Man lebt daher vorzugsweise in der räumlichen Nähe des Elternhauses und verbringt viel Zeit im Kreis der Familie. Unverheiratete Kinder bleiben im Elternhaus, egal wie alt sie sind. Es ist in Afghanistan also praktisch kaum möglich, allein ohne den Rückhalt der Familie zu überleben.  

Wichtig für Ihre ehrenamtliche Tätigkeit:
Beachten Sie als Ehrenamtliche*r, dass es für Geflüchtete aus Afghanistan eine ungewohnte Situation ist, allein und auf sich selbst gestellt zu sein. Dies gilt umso mehr für unbegleitete Minderjährige und Jugendliche. Sie brauchen daher besondere emotionale Ansprache. Hier reicht schon ein freundliches Wort, ein gemeinsames Essen, das Gespräch über die Familie oder das Zeigen von Fotos. Der Kontakt zur Familien im Heimatland ist sehr wichtig. Die meisten Afghaninnen und Afghanen kennen sich inzwischen gut mit den sozialen Netzwerken (wie WhatsApp, Viber, Facebook) aus. Weisen Sie die Geflüchteten, die Sie begleiten, gezielt auf Skype hin.  

Wie prägt sich der Islam in Afghanistan aus?

Die afghanische Gesellschaft ist mehrheitlich tief religiös. Der sunnitische Islam spielt eine wichtige Rolle im Alltag und durchdringt das Leben der Menschen. Die Gebetszeiten strukturieren den Tagesablauf. Religiöse Feste wie Ramadan, Id al-Fitr (Fest zum Abschluss des Fastenmonats), das Opferfest oder der Geburtstag des Propheten werden aufwendig begangen. Hinzu kommen Aspekte der Volksfrömmigkeit, die dem afghanischen Islam eine besondere Prägung geben: Hier spielt der Glaube an Wundertaten, den Bösen Blick oder die Segenswirkung bestimmter Koranverse eine Rolle. Für besondere Probleme (zum Beispiel Krankheit, Geldnot, innerfamiliäre Konflikte) wird oft die Hilfe und Fürsprache von lokalen Heiligen in Anspruch genommen, indem man deren Gräber und Schreine aufsucht und Bittgebete spricht. Religion ist damit in Afghanistan eine öffentliche und keine private Angelegenheit. Im Fastenmonat Ramadan sind viele Behörden nur halbtags geöffnet. 

Vorbereitungen zum Neujahrsfest am Mausoleum Imam Alis in Mazar-i Sharif © Andreas Wilde

Die wenigsten Afghaninnen und Afghanen würden auf den Gedanken kommen, ihre religiöse Identität beispielsweise durch den Übertritt zu einer anderen Religion aufzugeben. Anderen Glaubensrichtungen stehen die meisten Afghaninnen und Afghanen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Diese Haltung hat sich bei vielen Menschen während der Taliban-Herrschaft in den 1990er Jahren und während der Kriege der letzten Jahrzehnte verstärkt. Wenn Afghaninnen oder Afghanen in ein anderes Land ziehen, spielt diese ablehnende Haltung in der Regel nach einigen Jahren nur noch eine untergeordnete Rolle.  

Wenn Sie Näheres zur Herrschaft der Taliban in Afghanistan und zur Frage, wie sie das Land geprägt haben, lesen möchten, klicken Sie hier.


Wie stehen die Chancen auf Bildung und Arbeit in Afghanistan?

Die Mehrheit der Afghaninnen und Afghanen lebt unter wirtschaftlich schwierigen Bedingungen. Armut und kriegsbedingte Unsicherheit veranlassen viele Familien, ihre Kinder arbeiten zu lassen, anstatt sie in die Schule zu schicken. In den umkämpften Provinzen des Südens und Ostens ist oft kein Unterricht möglich, weil die Schulen kriegsbedingt geschlossen sind. Laut einer neuen UNICEF-Studie gehen in diesen Regionen 85 Prozent der Mädchen nicht zur Schule. Insgesamt erhält die Hälfte der afghanischen Kinder im schulpflichtigen Alter (3,7 Millionen Kinder) keine Schulbildung.  

Das afghanische Schulsystem ist nach wie vor schlecht und befindet sich seit 2001 in einer Übergangs- und Aufbauphase. Während des Krieges und der Taliban-Herrschaft war das alte Schulsystem in vielen Regionen zusammengebrochen. Auch heute noch mangelt es an Schulgebäuden, Lehrmaterial und ausgebildeten Lehrer*innen. 

Autowerkstatt in Faizabad (Provinz Badakhshan, 2007) © Andreas Wilde

Zahlreiche Kinder aus armen Familien müssen entweder ganz oder halbtags arbeiten und gehen körperlich schweren Tätigkeiten nach (zum Beispiel als Müllsammler*in, in Autoreparaturwerkstätten, als Wasser- und Munitionsträger*in für die Kriegsparteien oder als Straßenverkäufer*in). Um doch eine Art formellen Nachweis über eine Schulbildung zu erhalten, werden viele Kinder offiziell eingeschrieben. Vielfach werden dann Lehrer*innen bestochen, um die Kinder in der Schülerliste zu halten oder an ein Zeugnis zu kommen. Das heißt, dass ein solches Zeugnis nicht immer und in jedem Fall den realen Bildungsstand und die tatsächlichen Fähigkeiten eines Zeugnisinhabers oder einer -inhaberin widerspiegelt.  

Entsprechend schlecht sind auch die Chancen, in Afghanistan an einen Arbeitsplatz zu kommen. Neben der Bildung sind hier der Ort oder die Region, in der ein Mensch lebt, sowie persönliche Kontakte entscheidend. In Kabul und den anderen Großstädten ist es naturgemäß einfacher, einen Job zu bekommen. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der schlechten Wirtschaftslage gibt es seit Jahrzehnten eine lebhafte Arbeitsmigration in die Nachbarländer und in die Region des Persischen Golfs.  

Weiterführende Informationen zum Bildungs- und Berufsbildungssystem in Afghanistan finden Sie auf dem Informationsportal für ausländische Berufsqualifikationen.

 

Im Gespräch mit Masihulla Tajzai – Ein persönlicher Blick auf Afghanistan

In diesem Interview gibt uns Masihulla Tajzai spannende und ganz persönliche Einblicke in sein Herkunftsland. Wir erfahren etwas über das Leben von Kindern und Jugendlichen, über den Umgang mit Dokumenten und Behörden sowie über die Bedeutung von Familie in Afghanistan. Eine persönliche Botschaft für Ehrenamtliche und Newcomer hat er auch für uns. Schauen Sie rein!

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Sie haben Afghanistan nun anhand von vier „Schlaglichtern“ ein wenig kennengelernt. Was können Sie als Hintergrundinformationen für Ihre ehrenamtliche Tätigkeit mitnehmen?
► In Afghanistan gibt es nur schwache staatliche Strukturen. Daher spielen persönliche Kontakte zu einflussreichen Personen in der Heimatstadt oder -region eine sehr große Rolle – beispielsweise wenn es darum geht, eine Arbeitsstelle zu finden oder finanzielle Probleme zu lösen.
► Häufig werden in Afghanistan keine schriftlichen Dokumente wie Geburts- oder Heiratsurkunden ausgestellt. Zudem ist das afghanische Verwaltungssystem kaum mit dem deutschen zu vergleichen. Für Ehrenamtliche ist es daher wichtig, deutsche Verwaltungsabläufe zu erklären und die Bedeutung von Dokumenten und Ausweisen in Deutschland zu vermitteln.
► Familie und Verwandtschaft kommt in Afghanistan eine große Bedeutung zu. Viele Schutzfunktionen, die in Deutschland der Staat erfüllt, werden von der Familie übernommen. Interessen von Einzelnen stehen häufig gegenüber dem Gemeinwohl der Familie zurück.
► Das öffentliche und private Leben ist in Afghanistan vom (sunnitischen) Islam geprägt. Religion ist keine Privatangelegenheit.  
► Aufgrund des Krieges und verbreiteter familiärer Armut können momentan mehr als 3,7 Millionen Kinder keine Schule besuchen.

Weiterführendes Material

Das Themendossier zu Afghanistan von ecoi.net umfasst verschiedene Dossiers und Berichte. 

Zu empfehlen sind auch die Afghanistan-Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung und des Informations-Portals zur politischen Bildung.  

Als Literatur sei Ihnen die Publikation „Geliebtes, dunkles Land. Menschen und Mächte in Afghanistan“ von Susanne Koelbl und Olaf Ihlau empfohlen (erschienen 2007 im Siedler Verlag, München). Lesenswert ist auch das Buch „Kleine Geschichte Afghanistans“ von Conrad Schetter (erschienen 2006 bei C.H. Beck, München).   



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Dr. Andreas Wilde ist Historiker und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Iranistik der Universität Bamberg. Seine Mitarbeit an mehreren wissenschaftlichen Projekten führte ihn immer wieder nach Iran, Afghanistan und Zentralasien.

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Wie nehmen die afghanischen Geflüchteten, die Sie betreuen oder kennen, das deutsche Verwaltungssystem wahr? Tauschen Sie sich mit ihnen darüber aus und teilen Sie Ihre Erfahrungen mit uns. Schreiben Sie Ihre Antwort in die Kommentare!