Blick nach vorn? Perspektiven entwickeln

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Situationen kann man immer aus mindestens zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten, das gilt auch im Kontext Migration, Flucht und Rückkehr. Wie können Sie Rückkehrende bei der Betrachtung ihrer Lage unterstützen? Erfahren Sie es in dieser Lektion.

Bild: Jim Semonik auf Pixabay

Die Entscheidung steht: Ferhad geht zurück in den Irak. Besser gesagt: Er wird erneut migrieren, sich erneut auf den Weg machen. Wie das alles werden soll, weiß er aber noch überhaupt nicht. Ja, er wird bekannte Gesichter wiedersehen und kommt für die erste Woche bei seinem Cousin unter. Aber Genaueres ist noch nicht klar. Was wird er machen, wo arbeiten, wo wohnen? Hinzu kommt, dass er sich fühlt, als würde er erneut davonlaufen, flüchten. Es fühlt sich nach Scheitern an. Es fühlt sich danach, als wäre alles umsonst gewesen. Gegenüber Gabi äußert er Zweifel, ob er sich genug bemüht hat, damit sein Ankommen in Deutschland gelingt. Gabi glaubt, Ferhad braucht einen neuen Blick auf das Ganze. Vielleicht, denkt sie, muss er seine eigene Geschichte nochmals etwas anders erzählen, und sie möchte ihn dabei unterstützen.

Auch eine Frage der Perspektive?

Beim Thema Rückkehr bewegen sich die Personen immer in einem gewissen Spannungsfeld von Fremd- und Selbstbestimmung. Dieses Verhältnis kann sehr problematisch sein, mit ganz wenig Raum für eigene Entscheidungen − etwa bei einer (anstehenden) Abschiebung. Mehr Möglichkeiten zur Selbstbestimmung gibt es hingegen, wenn Menschen sich etwa am Wiederaufbau in ihrem Herkunftsland beteiligen und deswegen zurückreisen wollen. Aber auch das bedeutet nicht, frei in allen Entscheidungen zu sein. Soziale Erwartungen in ihrem Herkunftsland, der Mangel an Vorbereitung(-smöglichkeiten) oder schlicht die Unwissenheit, was die Menschen erwarten wird − all das schränkt ein und kann hohe Belastungen mit sich bringen.

Man kann Situationen immer aus mindestens zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten − auch in diesem Kontext.

Ferhads Geschichte(n)

Man kann die Geschichte eines Menschen erzählen, der vor einem Krieg davongelaufen ist und seine Familie im Stich gelassen hat, der deren letzte Mittel verbraucht hat, um nach Deutschland zu kommen, der es dann nicht geschafft hat, sich zu integrieren und eine Arbeit zu finden, und der jetzt wieder aufgibt und nach Hause zurückkehrt, wo diejenigen auf ihn warten, die er im Stich gelassen hat.

< oder >

Man kann von einem Menschen berichten, der eine harte, aber notwendige Entscheidung getroffen hat, um sein Leben zu retten, der große Hürden überwunden, riesige Herausforderungen gemeistert hat, um es nach Deutschland zu schaffen. Er hat begonnen Deutsch zu lernen, eine wirklich schwierige Sprache, kann sich nun verständigen und kommt im Alltag zurecht. Sein legaler Status erlaubt ihm nicht, zu tun, was er tun müsste, er erlebt Diskriminierungen und sein Weg liegt voller Steine. Nun wägt er ab, reflektiert, denkt klug nach und kommt zu dem Schluss, dass er seiner Familie mehr helfen kann, wenn er wieder bei ihr vor Ort ist. Er hat sich wenig vorzuwerfen. Er hat alles versucht, und wenn er wieder in seiner Heimat ist, wird er weiter alles versuchen. Er kann stolz auf sich sein und hat noch viel vor sich.

Wer erzählt unsere Geschichte? Und wie?

“Wir sind nicht die einzigen Autoren unserer Geschichten.” Winslade/Monk 1999


Diesem Zitat wäre hinzuzufügen: "Aber wir schreiben mit." Das ist erstmal leichter gesagt als getan. Das anzuerkennen, ist jedoch wichtig. Es braucht möglicherweise ein wenig Übung, um solch einen anderen Blick auf eine (beziehungsweise auf die eigene) Situation zu werfen. Im sogenannten “narrativen Therapieansatz” wird auf eine Weise vorgegangen, von der man in diesem Kontext etwas lernen kann.


Phasen des narrativen Ansatzes

  • Die Problemsättigung: Es ist recht wahrscheinlich, dass Menschen in dem hier behandelten Kontext auf die Probleme und negativen Aspekte ihrer Situation fokussiert sind. Sich klar zu machen, dass das nicht unbedingt eine objektive Realität, sondern der eigene, möglicherweise verzweifelte Blick auf die Situation ist, kann ein erster Schritt sein.
  • Die Problembenennung: Als nächstes kann man gemeinsam mit der betroffenen Person versuchen, ihre Probleme klar zu benennen. Das fördert die Fokussierung und kann der Person das Gefühl der Kontrolle geben.
  • Die Problemexternalisierung: Es ist davon auszugehen, dass die äußeren Umstände einen erheblichen, vermutlich sogar ganz entscheidenden Einfluss auf die Situation der Person haben. Konflikt, Krieg, Flucht, Asylrecht, Rassismus und vieles mehr. Das nochmal zu benennen, kann helfen, die Person selbst von der Schwere der (Haupt-)Verantwortung gegenüber ihrer Situation zu entlasten.
  • Die Problembewältigung: Wenn eine Person davon berichtet, wie gewisse Probleme ihr Leben beeinflusst haben oder noch beeinflussen, kann man versuchen zu sehen, an welcher Stelle und wie die Person es bereits geschafft hat, mit diesen Probleme umzugehen, und trotz der Probleme gewisse Erfolge aufzuweisen hat.

Die Ereignisse, in denen eine Person ihre Probleme (zum Teil) bewältigt oder einen Umgang damit gefunden hat, können wiederum genau benannt und analysiert werden. So kann man einen anderen Blick auf die (eigene) Lebensgeschichte werfen und womöglich positiver und mit einem besseren Selbstbild damit umgehen.

Perspektivwechsel

Das eigenene Selbstbild ist für das Erzählen und Bearbeiten der eigenen Lebensgeschichte und für die eigene psychische Gesundheit von großer Bedeutung. In diesem Video erklärt der arabische Kinderpsychiater Essam Daod, warum die globale Flüchtlingskrise eine Katastrophe im Hinblick auf die psychische Gesundheit der Betroffenen ist. Millionen von Menschen benötigen psychologische Hilfe, um die Traumata von Vertreibung und Konflikten zu überwinden. Er unterstreicht die Bedeutung des Geschichtenerzählens (Storytelling) als Ansatz, um Geflüchteten, die in zerstörerischen oder schädigenden Erzählungen gefangen sind, zu helfen. Sie sollen ihre Geschichten in ein positives Bild rücken, indem sie ihre Widerstandskraft in den Mittelpunkt stellen. Dies steigert das Selbstwertgefühl und ermöglicht es Menschen in kritischen Situationen, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen und ihr Leben neu zu orientieren. Schauen Sie rein.

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Essam Daod ist Co-Direktor von Humanity Crew, einer Organisation, die Flüchtlingsboote an den Küsten Griechenlands und des Mittelmeeres rettet. Ihr Ziel ist es, Geflüchteten (ein Viertel davon sind Kinder) zu helfen, ihre Erfahrungen durch kurze, kraftvolle psychologische Interventionen neu zu definieren.


Wie können Sie im Alltag zu einem Perspektivwechsel in der Geschichte der Rückkehrenden beitragen?

An dieser Stelle kann noch einmal an die ursprüngliche Perspektive der Geschichte am Anfang dieser Lektion erinnert werden (“Überall Probleme!”). Es lässt sich vermutlich feststellen, dass es doch auch eine andere Perspektive auf die Situation gibt. Hier sehen Sie sieben Aussagen, die eher negativ oder pessimistisch formuliert sind. Versuchen Sie, die Perspektive zu wechseln, einen anderen Blick zu finden und die andere Seite der Aussage/Geschichte zu beleuchten.

Vorbereitet sein!

“Feldforschungsstudien mit Rückkehrer*innen nach Afghanistan zeigen, dass eine selbstbestimmte Rückkehr, bei der Geflüchtete sowohl den Zeitpunkt als auch die Bedingungen (insbesondere den Grad der erhaltenen Bildung, materielle Absicherung und ggf. die Grundlagen für eine Berufstätigkeit nach der Rückkehr) selber festlegen, am erfolgversprechendsten ist, was die dauerhafte Absicherung von aus Sicht der Rückkehrer*innen angemessenen Lebensverhältnissen betrifft. Im Gegensatz dazu führt die unfreiwillige Rückkehr meist zum Versagen bei der Aufnahme einer ausreichend Einkommen generierenden Erwerbstätigkeit nach der Rückkehr und damit auch bei der Fähigkeit, den Lebensunterhalt im Herkunftsland zu sichern.” (vgl. Grawert 2018)


Weitere Studien kommen hinzu, welche zeigen, dass die psychische Verfasstheit und die gesamte Einstellung gegenüber den Herausforderungen auch im Kontext der Rückkehr ganz entscheidend dafür sind, ob ein Ankommen und eine Reintegration ins Herkunftsland gelingen kann. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Einstellung ist auch die Frage, ob jemand selbst entscheiden kann, wie diese erneute Migrationserfahrung abläuft, und wieviel Spielraum man dabei hat.

Wichtig: Diese Forschungsergebnisse ernst zu nehmen, heißt, aktiv zu werden und den bestehenden Handlungsspielraum wirklich zu nutzen − so klein er auch in einigen Fällen sein mag.


Go and See?

Optimal, auch darauf wird in wissenschaftlicher Literatur immer wieder hingewiesen, wäre ein sogenannter “Go and see”-Visit, also die Möglichkeit, vor der tatsächlichen, langfristigen Rückkehr einen Besuch im Herkunftsland zu organisieren. Dies wäre insbesondere wichtig, um Erwartungen und Realität abzugleichen und eine sinnvolle Einschätzung der Optionen vorzunehmen. In der Regel wird aber ein solcher Besuch nicht umsetzbar sein. Daher empfiehlt es sich, nach Alternativen zu suchen: An erster Stelle stehen dabei sicherlich Gespräche mit Menschen, die sich im Herkunftsland befinden – mit denen stehen die meisten Migrant*innen ja sowieso in Kontakt. Gegebenenfalls können hier nochmals konkret Personen oder Institutionen kontaktiert werden, die einen guten Überblick oder spezifisches Wissen zum jeweiligen Kontext, Berufsfeld, dem Wohnungsmarkt und vielem mehr haben.

Ansprechpartner sind dabei auch die Mitarbeitenden der jeweiligen Institutionen oder Programme, die auch schon bei der Ausreise unterstützen oder mit den unterstützenden Organisationen kooperieren. An erster Stelle steht hier die IOM (Internationale Organisation für Migration) und deren Programm “StarthilfePLUS” (siehe Lektion "Reintegration im Herkunftsland").


Bildung!

Bild: Pexels

Genauso wichtig wie jede finanzielle und organisatorische Unterstützung ist, was die Menschen selbst zum Erfolg ihres Reintegrationsprozesses beitragen können. Daher sollte ein Schwerpunkt auf das gelegt werden, was sie bereits können, wo sie Erfahrungen haben und wie diese noch auszubauen sind. Hierfür wurde der sogenannte Stärkenatlas entwickelt. Kultursensibel und ressourcenorientiert hilft er dabei, vorhandene Stärken zu finden, und so einerseits das Selbstbewusstsein zu fördern und andererseits berufliche Perspektiven (für die Zeit nach der Rückkehr ins Herkunftsland) zu eröffnen. Auf der Internetseite des Deutschen Volkshochschul-Verbandes sind dieser Stärkenatlas und Tipps zur Verwendung zu finden. Sie können sich hier einen Einblick verschaffen und nach Möglichkeiten mit der Person, die Sie unterstützen, den Atlas gemeinsam durcharbeiten.

Hieran anknüpfend ist die allgemeine Bedeutung von Bildung in diesem Kontext zu betonen. Alles, was die Rückkehrer*innen im Aufnahmeland lernen und sich erarbeiten, können sie als Erfolg verbuchen und es kann ihnen einen wesentlichen Vorteil im Prozess der Reintegration ermöglichen. Ein Projekt des Deutschen Volkshochschul-Verbandes, das sich der Aus- und Weiterbildung von rückkehrinteressierten Geflüchteten widmet, ist “Bildungsbrücken bauen”. Das Bildungsangebot richtet sich an den Stärken der Teilnehmenden sowie den Bedarfen der Arbeitsmärkte in den Herkunftsländern aus. Die Kurse sind niedrigschwellig und ohne Progression, so dass ein Ein- und Ausstieg jederzeit möglich ist. Mögliche Themenfelder sind zum Beispiel: Pflege, Kochen, Nähen, Tourismus, EDV, Buchführung, Holz- und Metallarbeit, Elektrik, Erneuerbare Energien und Landwirtschaft. Die Kurse werden an mehreren Standorten von den Volkshochschulen angeboten.

“[Es] ist unser Ziel, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Bildungsmaßnahmen sich immer lohnen, auch wenn sie angesichts der persönlichen Umstände unserer Teilnehmenden sehr kurz andauern. Die Vorbereitung auf die Rückkehr und die eigene Perspektive nach der Rückkehr sind zentrale Punkte unserer passgenauen individuellen Weiterbildungsangebote. Wir sind überzeugt, dass wir mit unserer Bildungsarbeit Anstöße geben, die eine im idealen Fall persönliche wie auch berufliche Bildung unserer Teilnehmenden umfassen und die sich auch in der Zeit nach der Rückkehr fortsetzen lassen.” Radka Lemmen, Bildungsmanagement und Projektleiterin an der vhs Meppen


Deutschlandweit gibt es verschiedene Träger, die wie der Deutsche Volkshochschul-Verband finanziert durch die GIZ im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Bildungskurse − von Existenzgründung bis zu Elektrotechnik, Solar oder Tourismus − für rückkehrinteressierte Geflüchtete anbieten. Auf https://www.startfinder.de/de/informationen-fuer-beratende finden Sie eine Übersicht.

Intrumente für die Selbsterkundung und Feststellung der eigenen Stärken im Hinblick auf eine (berufliche) Reintegration der Rückkehrenden im Herkunftsland finden Sie am Ende der Lektion "Berufs- und Studienorientierung − Schritt für Schritt zur Berufswahl".

Studien legen nahe: Die Einstellung eines Menschen zu seiner Rückkehr und Reintegration ist bei weitem entscheidender als die tatsächlich Hilfe, die er letztlich aus einem Programm bekommt. Auch eine gute Vorbereitung scheint einen größeren Einfluss zu haben als institutionelle Unterstützung. Das bedeutet, dass es extrem wichtig ist, mit welcher Einstellung, welchem Selbstbild und welcher Perspektive eine Person in ihr Herkunftsland zurückkehrt. Hieran muss unbedingt im Vorfeld gearbeitet werden!


Weiterführendes Material


Stärkenatlas - 1.3 MB


Autorenbild

Jannik Veenhuis hat Islamwissenschaften und Geschichte studiert und arbeitet als Referent und Moderator zu den Themen Migration, Integration, Islam und gesellschaftliche Debatten. Er war für den DVV und DVV International als Experte und Trainer an der Konzeption und Umsetzung der Lehrkräfte-Fortbildung „Bildungsbrücken bauen – interkulturellen und psychosozialen Herausforderungen im Unterricht mit rückkehrinteressierten Geflüchteten kompetent begegnen“ beteiligt. Für das im Rahmen des BMZ-Programms „Perspektive Heimat“ durch die GIZ geförderte Projekt „Bildungsbrücken bauen – Weiterbildung für Rückkehrer*innen“ hat er auf dem vhs-Ehrenamtsportal die Themenwelt „Rückkehr ins Herkunftsland“ erstellt.

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Perspektivwechsel und Perspektiven schaffen

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