Community

Angst vor "Draussen"

Moin alle zusammen!
Ich hoffe mal wieder auf Euren guten Rat,vielleicht wissen ja VHS-Mitarbeiter,die hier mit lesen,was man da machen kann.Ich habe einen politisch verfolgten Familienvater als Coachee mit dem ich für die B2-Prüfung gelernt habe.Er hat sie inzwischen absolviert und ist ziemlich optimistisch,ein Ergebnis haben wir aber noch nicht.Beim Tandem-Coaching ist er gelandet, weil er Kontakt zu Deutschen wollte und er hat sonst keinen Einheimischen,mit dem er reden kann.Er weigert sich seit Minute 1 beharrlich,Integrationseinrichtungen oder Kulturvereine anzusteuern.Als gläubiger Muslim geht er in bosnische oder andere Moscheen, weil er so eine Angst vor Spitzeln oder „dem langen Arm“ des Regimes hat,vor dem er geflohen ist.Daraufhin haben wir ihm Adressen verlinkt.Einen Computerclub,die Sozialberatung der Caritas,ein Freund von mir hat angeboten,privat mit ihm am PC zu basteln,zu reden,spazieren zu gehen.Er tut es nicht! Er sagt,er sitzt ,seit er in Deutschland ist, zuhause in der Wohnung und trifft sich nur mit einer einzigen befreundeten Familie in der Nachbarschaft und er geht halt in den Kurs, aber es gab ja keinen Präsenzunterricht.Ausserdem-was ist danach? Das war wohl der Auslöser für das plötzliche Geständnis, denn ohne Präsenzkurs kommt er ja garnicht mehr raus.Davor hat er große Angst.Und er ist so verkrampft,dass er ständig Kopfschmerzen hat und die Schultern nicht heben kann.„Achselzucken“ geht nicht.
Er will ja unbedingt arbeiten aber auch das Angebot, mal Kontakt zu einer Firma aufzunehmen und einfach zu schnuppern, kennen zu lernen - macht er nicht.Er sagt,er hat zu nichts mehr Mut,was Menschen betrifft
Was macht man mit so jemandem? Aufsuchende Sozialarbeit? Freiwilligenforum einer ortsansässsigen Gemeinde? (Er hat kein Vertrauen zu Christen.)Ich halte ihm die Stange aber sonst muss ich mich abgrenzen.Ich bin dafür nicht ausgebildet und kenne ihn ja nur vom Zoom, ausserdem ist das nicht meine Baustelle.Ich versuche,ihm klar zu machen,dass er den ersten Schritt tun muss und zwar zu den richtigen Leuten.Die Idee,mit mir zu reden ist mE auch ein bisschen der einfachste und schnellste Weg,ein bisschen Paschatum darf man ,glaube ich, unterstellen.Auch zunehmend Depression,finde ich, aber das geht nicht,ich will das nicht.Was haltet Ihr davon? Danke für Eure Hilfe und schönes
Wochenende! LG Susann

1 „Gefällt mir“

Liebe Susann,
allem voran Hut ab für dein Engagement und der Bereitschaft, diese schwierige Situation zu begleiten.
Auch dass du dich herausnimmst und abgrenzt, wo es zu viel wird, ist sehr gut.
Vom langen Arm des Regimes habe ich schon gehört. Verständlich, dass der Mann in großer Angst lebt. Wie nah die Bedrohung ist, lässt sich jedoch kaum einschätzen. Daher ist Ängste zerstreuen eine heikle Sache. Ich persönlich würde mir das nicht trauen. Evtl. hat auch die Pandemie bestehende Ängste noch zusätzlich verstärkt und nun ist es kaum möglich, mit Hausmitteln zu helfen - will sagen: Sind die Ängste und depressive Züge schon ein Fall für professionelle Hilfe? Erkennt er das? Wird er sich dahin öffnen?
Schwierig, oder?
Und ja, das ist nicht eine Verantwortung, die du tragen kannst oder solltest.
Immerhin hat er einen Weg gefunden, seinen Glauben auszuüben. Gibt es evtl. auch einen (Um-)Weg zu anderen Menschen oder zu einer Arbeitsstelle? Was braucht es aus seiner Sicht, damit ein Weg/Kontakt sicher ist? Vielleicht ist diese Mitwirken ein Weg aus der Passivität.
Ich bin ehrlich, wahrscheinlich gab es schon diese Gespräche.
Aber wie wäre es damit:
Als Impuls für eine Sprech- oder Schreibaufgabe oder auch nur für ein Gesprächsthema:
Wovon habe ich geträumt, bevor ich nach Deutschland kam? Was waren meine Vorstellungen, Wünsche, Ziele? Wie würde ich Deutschland für Menschen in der Heimat beschreiben?
Oder:
Wo sehe ich mich in einem Jahr (zwei Jahren)? Was möchte ich erreichen? Wie sieht der Weg dorthin aus? Was sind die nächsten Schritte?
Am Ende denke ich, dass die Situation schwierig bleibt und mein Beitrag hat zum Ziel, dich zu bestärken, dass du schon das Richtige getan hast und die richtigen Fragen gestellt hast. Bleib weiter so, grenz dich ab, wo es wichtig ist und lass nicht nach, ihn mit Augenmaß aus der Reserve zu locken.
Viel Glück, Susann

Hallo,Verena,tausend Dank erstmal für diese,ehrlich gesagt,herbei gesehnte Antwort!
Die Geschichte über den Traum von Deutschland,Die Frage nach der Zukunftsvision und was Wege und neue Kontakte für ihn sicherer machen könnte stelle ich ihm heute abend mal.Da bin ich gespannt!
Also,danke für den tollen Tipp,ich werde Dir weiter berichten!
Liebe Grüße
Susann

Hallo Susann, deine Begeisterung ist ansteckend - jetzt bin ich auch gespannt. Wenn du etwas teilen möchtest, dann freue ich mich sehr darüber - auch wenn es vielleicht nicht so läuft, wie du es möchtest. Wichtig ist mir, dass du motiviert bist, etwas Neues auszuprobieren. Mach diese Ansätze zu deinem Werkzeug, modifiziere sie, nach deinen und seinen Bedürfnissen. Und jetzt … viel Glück!!!

Guten Morgen,Verena!
Ich habe K. (so nenne ich den Coachee jetzt mal) gestern abend im Zoom getroffen und er hat bestätigt,dass er sich heute mit dem Freund von mir treffen will.Das hatte der Freund mir auch schon gesagt-und ich war echt ``baff``` -:)) Er ist mit seiner großen Tochter in einer Stadtbibliothek gewesen.Von der Tochter sagt er selber,die spricht viel besser Deutsch als er und sie kann ihm wirklich helfen.Er ist mit dem Familienvater aus der Nachbarschaft befreundet und fand die Idee ganz gut,M. in den PC-Club mitzunehmen,wenn er einen findet.
K. hat Angst vor dem PC-Club,ich meinte dann,dann nimm doch die PC-Kurse der VHS aber das ist ihm zu leicht,was da gelehrt wird.Er träumt von Entwicklung von Anwendersoftware und will in diesem Bereich auch auch arbeiten.Aber vorallem gefällt ihm wohl das Bild von dem Aquarium/Teich (das gefällt allen).Jeder Mensch ist ein Fisch in einem eigenen Aquarium/Teich-mit passenden anderen Fischen,eigener Wasserqualität,besonderer Nahrung,etc.Manchmal muss man das Aquarium wechseln,das habe ich auch schon gemacht zb ein neues Bundesland vor 10 Jahren.Dafür muss man ja nicht Ausländer sein.Aber für die ist der „Aquariumswechsel“ besonders krass.Aber man kann ja Leute finden,die einen erstmal herumführen und vorstellen…-:)) grins
(Ich hab mal ein bisschen an der Sozialen Arbeit geschnuppert und fand den Teich,das Aquarium ein gutes Bild für diese Lebensweltvorstellung.) Eingesehen hat er aber scheinbar zumindest theoretisch inzwischen,dass -wenn er den B2-Kurs bestanden haben sollte-irgendwann die ARGE sagt,er sollte arbeiten gehen.Was er ja -theoretisch-auch unbedingt will-sagt er.Über den Umweg dämmert ihm wohl auch inzwischen,dass er an seiner Angst arbeiten muss.Die Caritas-Sozialberatung hat er sich auch durch den Kopf gehen lassen,er meinte gestern von sich aus,er würde später wirklich nochmal mit jemandem reden wollen.Das ist doch gut.Jedenfalls denkt er über unsere Zoom-Gespräche nach.
Der kriegt das schon hin! Der braucht nur jemanden,der ihm gelegentlich mal in die Seite knufft… :slightly_smiling_face: Ich hab für mich verstanden,dass „privatere“ Angebote für ihn ganz gut vorstellbar sind:Die Kirche,die VHS,mein Freund.Vor allem anderen hat er zu große Angst.
ich werde Dir weiter berichten,wie das weiter geht!
Schönen Tag und frohes Schaffen! LG Sussann

Ach ja! Weiss die VHS von irgendwas über psychologische Angebote für traumatisierte Migranten? Das wollte ich sowieso mal fragen.Möglichst nicht nur auf Deutsch.Landessprachler wären toll…

Was sagt man dazu?!?! :+1:
Hallo Susann,
jetzt bin ich auch baff - als hätte er auf ein Stichwort gewartet.
Das Aquarium Beispiel kannte ich noch nicht und finde es großartig. Das werde ich sicherlich in Zukunft verwenden, um auf Neuanfang, Fremd sein und Heimweh eingehen zu können - danke dafür!
Ich bin auch schon durch mehrere Becken geschwommen - von tropisch bis nordisch - und das war anfangs immer seltsam.
So wie du beobachtet hast, ist er „theoretisch“ bereit, sich auf Umwegen seinem Ziel zu nähern und auch Hilfe anzunehmen. Wie weit er bereit ist, tatsächlich Schritte zu unternehmen, wird die Zeit zeigen. Schon mit einem Schritt kommt er seinem Ziel näher. Vielleicht kann er bald auf kleine Erfolge blicken und ihr freut euch gemeinsam über den ein oder anderen Meilenstein - „Erinnere dich, von wo du gestartet bist und sieh, wo du nun stehst“.
Bleib auf jedem Fall am Ball, subtil oder direkt - durch gutes Zureden oder konkret auf Adressen und Termine verweisen. Das weißt du bestimmt am besten.
Vertraue weiterhin deiner Intuition und deiner Erfahrung aus anderen Bereichen (der Exkurs in die Sozial Arbeit hat sich gelohnt!). Sei auch auf Rückschritte gefasst - zurück ist aber auch nur eine andere Richtung oder man nimmt Anlauf :wink:
Hilfe für Traumatisierte - ich kenne Migrationslotsen und Migrationsdienste, die als Vermittler fungieren. Leider kann ich dir nichts Konkretes geben. Frag dich mal durch, ich denke, du wirst fündig.

Ach, Susann, wie herrlich!!! Pass bei aller Euphorie weiterhin auf dich auf und viel Vergnügen beim Begleiten der nächsten Schritte!!
Gute Zeit und viele Grüße
Verena

1 „Gefällt mir“

Danke Verena!
Die Gefahr mit der Euphorie und dem sich-verausgaben besteht bei mir eher nicht.Parallel dazu ist gerade mal wieder einer verschwunden,der erst total heiss auf Tandem war und jetzt ist er weg und nicht zu erreichen…naja.Ich kann mich ziemlich gut abgrenzen und ich weiss genau,dass die Leute selber leben müssen.Und ich sage auch schonmal ab,wenns mir zuviel wird.Hab ich schon öfter gemacht.Nee,das ist nicht wirklich mein Problem.Aber es macht schon irre viel Spaß wenn es klappt! Ist ein tolles Amt!
Danke für Deine Antwort und alles Gute!
Susann

Hallo!
K.hat mit meinem Freund einen zweistündigen Spaziergang gemacht und sich beim Hamburger Freiwilligenzentrum um ein Ehrenamt mit Senioren beworben.Er „recherchiert über die IT-Branche.“ Er sucht jetzt selbständig einen Praktikumsplatz.Der brauchte nur einen freundschaftlichen Knuff in die Seite und natürlich ein paar helfende Hände-und die hat er ja.Wir bleiben dabei und lernen mit ihm weiter Deutsch.
Es war eine Initialzündung, mit ihm mal aufzuschreiben, was er alles hat.Er hat sich ja vorher immer nur im Mangel gesehen und ich glaube,da hat er wirklich begriffen,dass er keinen Grund hat,mit hängendem Kopf in seiner Wohnung zusitzen.Da hat der Abstecher in die Soziale Arbeit wirklich gelohnt (obwohl ich sonst nichts davon verstehe!!).Aber ich kann hier wirklich nur jedem empfehlen,sich mal auf Youtube einige Videos über Ressourcenorientierung anzugucken.Bei www.open-vhb.de gibt es einen Einführungskurs in Ressourcenorientierung.Ich habe ihn absolviert aber mehrfach nicht bestanden,das ist schwer.Finde ich.
Der Mann war vorher ein ziemlich hohes Tier in einem Ministerium,mit Haus und allem und hat über Nacht alles verloren.Der saß wirklich zuhause und hat gedacht,er ist in Deutschland ein „Nichts“ ,hätte noch nichtmal eine Sprache.Das hat er auch gesagt.
Wenn er das nicht selber für sich begriffen hätte,dass er trotzdem noch vieles hat und machen kann, hätte niemand etwas für ihn tun können.Das hat ihm allen Mut genommen.
Aber jetzt,fürs Erste,ist er unterwegs.Das freut mich ohne Ende,ich habe ihm applaudiert,ich war total platt.Aber ich glaube,das geht vielen Flüchtlingen so.Und es nützt ja nichts,ihnen alles abzunehmen wenn sie keinen Mut (mehr) haben,selbständig etwas zutun oder auf Deutsche zuzugehen.

Genau! Danke,Verena! :grinning: