Wie nehme ich Geflüchtete wahr? – Über den Umgang mit Stereotypen und Vorurteilen

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In der Zusammenarbeit mit Geflüchteten kann es passieren, dass wir uns missverstehen und Irritationen oder Spannungen entstehen. Welche Rolle spielt dabei die Art, wie menschliche Wahrnehmung funktioniert? Und wie beeinflussen Stereotype und Vorurteile unseren Blick auf Geflüchtete? In dieser Lektion erfahren Sie, wie Stereotype und Vorurteile entstehen und wie man mit ihnen umgehen kann.

Fallbeispiel Sportverein

Hannes ist Trainer in einem Sportverein und möchte seine Volleyball-Gruppe für Geflüchtete öffnen. Ein befreundeter Trainer macht schon ein offenes Sportangebot für neu angekommene Geflüchtete aus der benachbarten Unterkunft. Um sein eigenes Angebot zu bewerben, spricht er nach dem Training auf Englisch drei Männer an, ob sie nicht Lust hätten auch bei seinem Angebot probeweise vorbeizuschauen. 

Einer der Männer stellt sich mit Amir vor, bedankt sich für das Angebot und sagt, er werde anderen von dem Angebot berichten, schaut Hannes dabei aber nicht in die Augen. Er wartet ab und stellt auch keine weiteren Fragen. Hannes ist irritiert und beendet das Gespräch, obwohl er den Männern gerne noch mehr Informationen gegeben hätte. Die drei Männer gehen in die Umkleide. Hannes hat das Gefühl, dass sie kein Interesse haben, da sie so ausweichend waren und auch keine Nachfragen gestellt haben. Hannes ist enttäuscht über den Verlauf des Gesprächs und fragt sich, wie er TeilnehmerInnen für sein Angebot gewinnen soll. Was ist passiert? Und wie hängt dies damit zusammen, wie wir wahrnehmen?  

Hat Amir wirklich kein Interesse? Was glauben Sie? Stimmen Sie ab. (Mehrere Antworten sind erlaubt.)


Dass Amir Hannes nicht in die Augen schaut und nicht nachfragt, bedeutet ...

Im Engagement für Geflüchtete machen Sie viele neue, positive Erfahrungen, treffen dabei aber auch auf ungewohntes Verhalten, das manchmal irritierend sein und Spannungen oder Befremden auslösen kann. Was genau geht in uns vor, wenn wir neues Verhalten sehen? Und welche Rolle spielt dabei unsere Wahrnehmung?

Wahrnehmen heißt nicht, die Realität eins zu eins im Gehirn abzubilden. Wahrnehmung ist ein komplexer Prozess, bei dem das Gesehene gefiltert, strukturiert und sortiert wird. Dabei können Informationen verloren gehen oder es werden welche hinzugedacht. Wahrnehmung ist nie objektiv. Die subjektive Wirklichkeit, die wir wahrnehmen, wird von unserem Bewusstsein konstruiert. Dabei greifen wir auf unsere Lebenserfahrung zurück.  Wir sortieren Beobachtungen in schon bestehende Kategorien ein und geben ihnen je nach Zusammenhang unterschiedliche Bedeutungen.  

Das Bewusstseinsrad der interkulturellen Kommunikation

Das Bewusstseinsrad der interkulturellen Kommunikation

Das Bewusstseinsrad zeigt, wie menschliche Wahrnehmung funktioniert. Wir sehen etwas und gleichzeitig interpretieren wir das Gesehene, wir urteilen darüber und handeln dann (handeln kann dabei auch bedeuten, dass man etwas nicht tut). Alle vier Schritte passieren dabei gleichzeitig. Warum ist das so?  

  • Dieser Wahrnehmungskreislauf entlastet unser Alltagsbewusstsein. Die Fülle an Informationen, die täglich auf uns einströmt, könnten wir nicht verarbeiten, wenn wir Personen und Situationen ständig neu interpretieren und bewerten müssten.
  • Unser Gehirn funktioniert dabei wie eine Sortiermaschine. Wir sortieren Informationen in schon bestehende Schubladen und Schemata ein (wir sehen ein fahrendes Objekt mit vier Reifen und ordnen dies in die Schublade „Auto“ ein). Auf diesem Wege entstehen auch Stereotype und Vorurteile.
  • Unsere Wahrnehmung ist nicht rein rational, sondern durch Gefühle beeinflusst. Insbesondere wenn wir auf ungewohntes, andersartiges Verhalten treffen, spielen Emotionen und eigene Werte (Was ist normal? Was ist üblich?) bei der Interpretation und Bewertung eine große Rolle. Sie leiten das Einsortieren in Kategorien und Schubladen und können zu Fehlannahmen über die Beweggründe unseres Gegenübers führen.


„Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind. Wir sehen sie so, wie wir sind“. (Anais Nin, Schriftstellerin)  

Was wird wahrgenommen? (Übung)

Nur die eine Geschichte? Was sind Stereotype und Vorurteile?

Sehen Sie sich den Video-Clip von Chimamanda Adichie „The Danger of A Single Story“ an (Empfehlung: Ausschnitt Minute 02:58-08:20).

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Im Video-Clip von Chimamanda Adichie haben Sie gesehen, wie leicht man in Stereotypen und Vorurteilen denkt und kommuniziert. Jeder hat sie, sie sind fester Bestandteil des sozialen Zusammenlebens und eng mit unseren zum Teil nicht hinterfragten Wertvorstellungen verknüpft. Stereotype und Vorurteile sind zwei unterschiedliche Formen des Schubladendenkens. Aber wie unterscheiden sie sich eigentlich genau? Hier finden Sie Definitionen.  

Jeder Mensch denkt in Schubladen. So funktioniert unsere Wahrnehmung. Das Ziel ist nicht, vorurteilsfrei durch die Welt zu gehen – dies ist auch gar nicht möglich – sondern sich seiner eigenen Vorurteile und Stereotype bewusst zu werden, sie zu hinterfragen und konstruktiv mit ihnen umzugehen. Aber wie schafft man das? Wie kann man den automatischen Kreislauf des Bewusstheitsrads unterbrechen? Hier einige praktische Tipps:  

  • Erstmal die eigene Beobachtung beschreiben, ohne direkt zu interpretieren.
  • Der Versuchung widerstehen, Verhalten sofort in Schubladen einzusortieren.
  • Gelassenheit entwickeln, irritierendes Verhalten stehen zu lassen, bis sich eine Erklärung bietet.
  • Beobachten und nachfragen, um die wirklichen Beweggründe für Verhalten kennenzulernen.
  • Lernen, Missverständnisse und Andersartigkeit auszuhalten.

"Ich will kein Flüchtling sein. Und ich will nicht Thema eines Zeitungsartikels sein, in dem es nicht um mich als menschliches Wesen geht. Nennt mich ein interkontinentales historisches Ereignis oder einen Schmerzsturm, der durch diese elende Welt fegt, aber nennt mich nicht Flüchtling … Ich bin weniger ein Flüchtling als ein Mensch voller Gefühle. Ich suche Hoffnung in all diesen Trümmern und etwas Wärme, und ich danke allen, die mir beigestanden sind.“ (Nather Henafe Alali, syrischer Menschenrechtsaktivist)

Bilder im Kopf: Wie sehen wir Geflüchtete?

Überlegen Sie sich spontan drei Begriffe, die Ihnen beim Wort „Flüchtling “ einfallen. Denken Sie über Ihre gewählten Begriffe nach. Warum haben Sie sie ausgesucht? Und durch welche Erfahrungen ist dieses Bild beeinflusst?  Sie sind durch Ihre ehrenamtliche Arbeit in direktem Kontakt mit Geflüchteten und machen dadurch viele persönliche Erfahrungen. Doch wir alle sind auch durch Medien und die öffentliche Diskussion beeinflusst in unserem Blick auf Geflüchtete. Aber wie sieht der gesellschaftliche, durch (sprachliche) Bilder geprägte Blick auf Geflüchtete aus? Wie werden sie in der Gesellschaft wahrgenommen?  

Sie haben den reflektierten Umgang mit Stereotypen und Vorurteilen ein wenig kennengelernt. Was können Sie als Hintergrundinformationen für Ihre ehrenamtliche Tätigkeit mitnehmen?  

 ► Im Engagement für Geflüchtete kann es immer auch passieren, dass Missverständnisse und Spannungen entstehen. Dabei lohnt es sich, die eigenen Wahrnehmungen und Bewertungen zu hinterfragen, sich eigener Vorurteile und Stereotype bewusst zu werden und konstruktiv mit ihnen umzugehen.
► Sehen Sie Geflüchtete als das, was sie sind: Aktiv Handelnde mit vielerlei Ressourcen, unterschiedlichen Hintergründen, Fähigkeiten, Biografien, Fluchtwegen und Bedürfnissen.
Bedenken Sie dabei:
- Wir nehmen andere nicht objektiv wahr, sondern vor dem Hintergrund unserer eigenen Lebenserfahrung und (kulturellen) Brille.
- Die Art, wie menschliche Wahrnehmung funktioniert, begünstigt die Entstehung von Vorurteilen und Stereotypen.
- Wir alle haben Vorurteile und Stereotype. Es geht nicht darum, vorurteilsfrei durch die Welt zu gehen, sondern vorurteilsbewusst.
- Hinterfragen Sie die eigenen und in der Gesellschaft vorhandenen Bilder von Geflüchteten. Machen Sie sich für die Sichtweise auf Geflüchtete als aktiv handelnde Menschen mit vielfältigen Ressourcen und Lebensgeschichten stark. 

Weiterführendes Material

Videoclip „Was wäre, wenn wir auf einmal Flüchtlinge wären“.  

Videoclip zur Unterstützungsarbeit - Auf Augenhöhe mit Geflüchteten?!   

Autorenbild

Meike Woller, Diplom-Sozialwirtin, ist Trainerin für Interkulturelle Kompetenz und Globales Lernen. Sie hat verschiedene Projekte zum Thema „Integration“ geleitet und führt interkulturelle Fortbildungen für Menschen durch, die mit Geflüchteten zusammenarbeiten. 

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Die Gefahr einer einzelnen Geschichte

Sie haben das Video „The Danger of a Single Story” gesehen, in dem die Schriftstellerin Chimamanda Adichie berichtet, wie schnell wir in Stereotypen und Vorurteilen denken. Welche Single Stories kennen Sie über Geflüchtete? Wie können Sie von Ihrer Arbeit mit Geflüchteten berichten, ohne dass Single Stories entstehen? Schreiben Sie Ihre Antwort in die Kommentare und tauschen Sie sich aus!