Meine Rolle als Mentor*in

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Geringe Schriftkenntnisse bedeuten nicht automatisch den Ausschluss aus Beschäftigung. Wie es um die Lese- und Schreibkompetenz in der Arbeitswelt steht und wie Ansprechpartner*innen in Betrieben Kolleg*innen mit Grundbildungsbedarf auf Augenhöhe begleiten und unterstützen können, erfahren Sie in dieser Lektion.

Stefan ist 34 Jahre alt und arbeitet seit 3 Jahren am Empfang eines mittelständischen Unternehmens in Niedersachen. Von seinen Kolleg*innen wird er für seine positive und offene Art sehr geschätzt, weshalb ihm seine Arbeit viel Selbstvertrauen gibt und Spaß macht. Seit Beginn der Coronapandemie haben sich jedoch seine gewohnten Arbeitsabläufe grundlegend verändert und er stößt im Arbeitsalltag immer häufiger an seine Grenzen. Quasi über Nacht soll er Berichte und Dokumente digital verschicken und schriftliche Anfragen per E-Mail beantworten, was bei ihm großes Unwohlsein und Stress auslöst. Da ihm der Umgang mit diesen Herausforderungen immer seltener gelingt, meldet er sich oft krank, um die Konfrontation damit zu vermeiden. Gleichzeitig wächst in ihm die Sorge eines Arbeitsplatzverlustes.


Wie schon so oft im Leben hat Stefan einen Entschluss gefasst: Er möchte in seinem Betrieb bleiben und wünscht sich, dass seine Kolleg*innen Verständnis für Menschen haben, die nicht richtig lesen und schreiben können. Er möchte seine Ängste überwinden und eine Vertrauensperson finden, die ihn in seinem Vorhaben unterstützen kann. Vielleicht gelingt ihm ja schon in den nächsten Monaten der Weg in eines der vielen Hilfsangebote, die es geben soll. Bisher weiß er jedoch nicht, wen er dazu im Betrieb fragen kann und welche betrieblichen Unterstützungsangebote es vielleicht schon gibt.

Lese- und Schreibkompetenz in der Arbeitswelt

Wie Stefan geht es vielen Angestellten. Laut der LEO-Studie 2018 gibt es in Deutschland rund 4 Millionen erwerbstätige Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren, denen selbst kurze, einfache Texte Probleme bereiten. Mehr zur Erfassung der Lese-und Schreibkompetenzen erfahren Sie in der Lektion Die vier Alpha-Levels.

Man geht davon aus, dass in nahezu jedem mittleren und größeren Betrieb eine nennenswerte Zahl von Kolleg*innen mit Grundbildungsbedarf arbeitet.

Zahlen und Fakten

Ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die Art der Arbeitsverträge und die Sorge vor Arbeitsplatzverlust sind Themen, die diese Angestellten in einem viel höheren Ausmaß beschäftigen als Angestellte ohne Lese- oder Schreibschwierigkeiten. Im folgenden Abschnitt können Sie schätzen, wie hoch der Prozentsatz betroffener Arbeitnehmer*innen ist und wie groß die Unterschiede zur Gesamtbevölkerung ausfallen.

Was kann ich tun?

Doch was für Möglichkeiten haben Führungskräfte, Angestellte und Mitarbeitende überhaupt, um die Sensibilität für Lese- und Schreibschwierigkeiten – auch Grundbildungssensibilität genannt – im Betrieb zu erhöhen? Wie können Sie attraktive Angebote schaffen, die Angestellten wie Stefan spürbare Verbesserungen und Erleichterungen im Arbeitsalltag bringen?

Die Übernahme einer (ehrenamtlichen) Mentoren- oder Mentorinnentätigkeit im Betrieb bietet eine Vielzahl an Möglichkeiten bzw. Maßnahmen, mit denen Sie Betroffene unmittelbar und ganz konkret unterstützen können.

Meine Rolle als Mentor*in


Mentor*innen und Ansprechpartner*innen für das Thema Grundbildung nehmen eine wichtige Rolle im Betrieb ein. Das persönliche Verhältnis zu Kolleg*innen ermöglicht die vertrauensvolle Ansprache von Problemen oder Schwierigkeiten mit der Schriftsprache. Sorgen oder Bedenken im Umgang mit diesen Schwierigkeiten lassen sich im vertraulichen Austausch auf Augenhöhe viel leichter und erfolgreicher überwinden als in einem großen Team. Die folgenden, wichtigen Aufgaben können Mentor*innen dabei übernehmen:

Sensibilisierung

Die hohe Zahl von 6,2 Millionen erwerbsfähigen Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten in Deutschland ist vielen Kolleg*innen in der Arbeitswelt nicht bekannt.


Gerade weil arbeitsbezogene Lese- und Schreibanlässe komplexer werden (z.B. in Form von Protokollen, Dokumentationen oder Übergaben), sind ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten in der heutigen Berufsweld unabdingbar. Aus dieser Entwicklung ergeben sich für die Betriebe wichtige Fragen, die sich gemeinsam besprechen lassen:

  • Wie können wir Lese- und Schreibschwierigkeiten im Betrieb verantwortungsvoll thematisieren?
  • Können bestimmte Arbeiten und Aufgaben von betroffenen Mitarbeitenden (nicht) erledigt werden?
  • Sind aufgrund von Schwierigkeiten mit dem Schreiben und Lesen vielleicht sogar Arbeitsplätze im Betrieb gefährdet?

Die Weitergabe übersichtlicher und gesicherter Informationen – beispielsweise in Form von Flyern oder Infoblättern – trägt zum sensiblen Umgang mit Lese- und Schreibschwierigkeiten im Betrieb bei. Ein wachsendes Bewusstsein für das Thema kann die Bedenken von Betroffenen senken, ihre Schwierigkeiten anzugehen und Beratungs- bzw. Hilfsangebote wahrzunehmen.

Unterstützung und Vermittlung

Neben einer punktuellen Unterstützung, z.B. beim Lesen und Schreiben wichtiger E-Mails oder Texte ist vor allem die Vermittlung betroffener Personen zu den richtigen Ansprechpartner*innen und in passende Bildungsangebote eine wertvolle Hilfestellung. Wichtige Lernprozesse können durch die Teilnahme an einem Lese- und Schreibkurs oder die Nutzung digitaler Bildungsplattformen wie dem vhs-Lernportal auf freiwilliger Basis angestoßen, nach und nach umgesetzt und langfristig Teil einer erfolgreichen Bildungskette werden.

Einbindung Einfacher Sprache

Komplizierte Formulare, wichtige Ankündigungen oder ausführliche Informationen stellen für Mitarbeitende mit Leseschwierigkeiten eine große Herausforderung dar. Eine Übertragung entsprechender Texte in Einfache Sprache kann zum Verständnis wichtiger Dokumente beitragen. Als Mentor*in und Multiplikator*in können Sie das Thema Einfache Sprache an wichtigen Schnittstellen wie z.B. dem Betriebsrat, der Personalabteilung oder bei Führungskräften ansprechen und vorantreiben. Das Thema Grundbildung kann so immer gesprächsfähiger gemacht werden und in die praktisch gelebte Firmenkultur einfließen.

Beratungs- und Bildungsangebote helfen allen betrieblichen Akteur*innen dabei, konstruktiv mit Grundbildungsbedarfen in der Belegschaft umzugehen.

Motivation und Vorteile für alle Beteiligten

Die Unterstützung und Beratung im Betrieb kann sowohl für den Menteé selbst als auch für (ehrenamtliche) Mentor*innen sehr motivierend sein. Durch niedrigschwellige Hilfe auf freiwilliger Basis vermeiden Sie, dass Kolleg*innen im Betrieb abgehängt werden oder "hinten runterfallen". Die Menteés selbst wiederum können durch eine Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen und Kursen die Qualität ihrer Arbeit, die Kommunikation innerhalb des Betriebes und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Der Abschluss eines Kurses oder einer Weiterbildung schafft Selbstvertrauen und Erfolgserlebnisse bei Menteé und Mentor*in. Und auch die gesamte Belegschaft profitiert von einer Enttabuisierung und Förderung der Grundbildung im Betrieb.

Der Einsatz für das Thema Grundbildung im Betrieb lohnt sich: Der Abbau von Kommunikationsbarrieren, die Reduzierung von Fehlern und die Erhöhung der Weiterbildungsbeteiligung sind unmittelbare Vorteile, die allen Mitarbeiter*innen in einem grundbildungssensiblen Betrieb zu Gute kommen.

Doch welche konkreten Erfahrungen gibt es mit der arbeitsorientierten Grundbildung im Betrieb überhaupt? Und wie beschreiben Angestellte ihren Einsatz als Kontaktpersonen, Koordinator*in oder Mentor*in für die Grundbildung?

Das Projekt Mento – Stimmen aus dem Betrieb

Glücklicherweise ist die beschriebene arbeitsorientierte Grundbildung nicht nur graue Theorie, sondern in vielen Betrieben unterschiedlicher Branchen bereits gelebte Praxis. Das Projekt MENTO hat zahlreiche Mentor*innen in Betrieben ausgebildet und persönlich begleitet. In Telefoninterviews berichten sie von ihrer Arbeit als Mentor*in, dem dortigen Umgang mit dem Thema Grundbildung und bereits erzielten Erfolgen. Hören Sie selbst!


Dr. Irmgard Spickenbom war bei thyssenkrupp Steel als Teamleiterin für den Sozialservice verantwortlich. Jetzt ist sie in Altersteilzeit und koordiniert die Tätigkeiten des MENTO Netzwerks bei thyssenkrupp Steel.

Thomas Eulberg berichtet darüber, wie er seine Kolleg*innen als Mentor dabei unterstützt, Lücken in ihrer Grundbildung zu schließen.

Rainer Schluseneck ist bei einem Versanddienstleister in Hamburg als Kontaktperson für die Kolleginnen und Kollegen da, die nicht richtig lesen und schreiben können.

Selbst Mentor*in werden

Sie sind berufstätig und möchten zum Mentor oder zur Mentorin in Ihrem Betrieb werden? Die folgenden konkreten Handlungsmöglichkeiten helfen Ihnen dabei:

  • Erkundigen Sie sich über Seminare zum Thema Grundbildung als Hybrid-, Online- oder Präsenzformat.
  • Nehmen Sie Kontakt zum Projekt MENTOpro auf, um sich über Weiterbildungsmöglichkeiten zu informieren.
  • Werden Sie zum langfristigen Partnerbetrieb des Projekts MENTOpro. Hier finden Sie die Ansprechpartner*innen in den verschiedenen Bundesländern.

Geringe Schriftkenntnisse bedeuten nicht automatisch den Ausschluss aus Beschäftigung. Rund vier Millionen Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren haben mit kurzen und einfachen Texten Probleme und gehen nichtsdestotrotz einer geregelten Arbeit nach. Oft sorgen sie sich jedoch besonders um ihren Arbeitsplatz und sind unsicher im Umgang mit ihren Schwierigkeiten. Genau hier können Mentor*innen im Betrieb anknüpfen: Sie sind Vertrauenspersonen für betroffene Kolleg*innen und können sie im Dialog auf Augenhöhe zur freiwilligen Teilnahme an passenden Lernangeboten motivieren. So lassen sich langfristige Bildungsketten, zum Beispiel durch das regelmäßige Lernen in einem Alphabetisierungskurs oder im vhs-Lernportal, erfolgreich anstoßen. Mentor*innen helfen mit, das Thema zu enttabuisieren und einen konstruktiven Umgang mit Grundbildungsbedarfen im Betrieb zu etablieren. Damit verbessert sich nicht nur die Situation der Kolleg*innen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten, sondern auch das allgemeine Betriebsklima, die Arbeitsqualität und die interne Kommunikation. Diese Verbesserungen kommen letztendlich allen Angestellten im grundbildungssensiblen Betrieb zu Gute. Berufstätigen und interessierten Beschäftigten bietet das Projekt MENTOpro Schulungen und Anknüpfungspunkte, um selbst als Mentor*in aktiv oder sogar zum Kooperationsbetrieb zu werden.

Weiterführende Materialien

  • Ausführlichere Daten und Fakten zur Lese- und Schreibkompetenz in der Arbeitswelt, Lese- und Schreibkompetenz im Kontext von Migration sowie zum Umfeld der Betroffenen finden Sie auf der Webseite des Projektes MENTOpro.
  • Das Projekt MENTOpro bietet Mitarbeitenden, die das Thema Grundbildung im Betrieb voranbringen und Kolleg*innen mit Grundbildungsbedarfen unterstützen möchten, ein vielfältiges Seminarangebot.
  • Auf der Projektseite kann man außerdem Merkblätter, Informationen und Plakate zur Lese- und Schreibkompetenz in der Arbeitswelt, zur Diskriminierung im Betrieb, zur Weiterbildung und vielen weiterne Themen herunterladen oder bestellen.
  • In insgesamt 20 Podcasts berichten Betroffene, Kontaktpersonen und Betriebsräte über Erfahrungen, Herausforderungen und Erfolge ihrer Arbeit. Hören Sie rein!
Autorenbild

Die Inhalte dieser Lektion basieren auf Materialien der Projekte MENTO bzw. MENTOpro des DGB Bildungswerkes und wurden vom vhs-Ehrenamtsportal redaktionell aufbereitet.