Geflüchtete Kinder beim Schulbesuch unterstützen – Ein Interview mit Rasmus Althaus

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Geflüchtete Kinder kommen früh in ihrem Leben in ein neues Land und lernen die Sprache ganz anders als Erwachsene. Sie werden in der Regel schnell in das Schulsystem und die Gesellschaft integriert. Wie Sie Kinder beim Schulbesuch unterstützen können, erfahren Sie im Interview mit Rasmus Althaus.

Nehmen Sie sich einmal eine Minute Zeit und erinnern sich an Ihre Schulzeit! Haben Sie an MitschülerInnen oder LehrerInnen, an ermutigende oder verletzende Erlebnisse gedacht? An Situationen, in denen Sie sich heute anders verhalten würden oder die Sie gerne noch einmal erleben möchten? Was immer Ihnen auch in den Sinn gekommen ist – es werden sicher lebendige und emotionale Erinnerungen gewesen sein. Denn in der Schulzeit lernen wir nicht nur Deutsch, Mathe und Englisch, sondern auch, eine Rolle in der Gemeinschaft zu finden, eine Position in der Klasse einzunehmen und unsere eigenen Stärken und Schwächen einzuschätzen.  Daraus ergibt sich unmittelbar, wie wichtig der Schulbesuch für geflüchtete Kinder und Jugendliche ist. Hier lernen sie Lesen, Schreiben und Rechnen. Sie erfahren etwas über demokratische Werte, Vortragstechniken und selbstständiges Recherchieren. Aber vor allem entwickeln sie ihre Identität zwischen den Kulturen.  Wie Sie den Schulbesuch geflüchteter Kinder bestmöglich unterstützen können? Das haben wir Rasmus Althaus, einen erfahrenen DaF/DaZ-Dozenten und Lehrer einer Willkommensklasse aus Leipzig gefragt.   

Eingliederung der Kinder in das Schulsystem

Redaktion: Herr Althaus, erklären Sie uns bitte erst einmal, wie die Eingliederung der Kinder in das Schulsystem aussieht. 

Rasmus Althaus: Alle Kinder, die in Deutschland leben, haben – unabhängig vom Aufenthaltsstatus – das Recht und die Pflicht, die Schule zu besuchen. Das Ankommen im deutschen Schulsystem verläuft – mit kleinen Unterschieden von Bundesland zu Bundesland – in drei Phasen. Wie schnell die Kinder diese Phasen durchlaufen, ist individuell unterschiedlich.  

  • In der ersten Phase werden die SchülerInnen in einer sogenannten Willkommensklasse unterrichtet. Hier lernen sie gemeinsam mit anderen MigrantInnen zunächst einmal die Grundlagen der deutschen Sprache und des deutschen Schulsystems kennen. Die Willkommensklassen sind altersgemischt. 
  • In einer zweiten Phase werden die SchülerInnen teilintegriert, das heißt, sie besuchen neben der Willkommensklasse noch den Unterricht in den „normalen“ Regelklassen mit etwa gleichaltrigen deutschen SchülerInnen. Meist sind das zunächst die Fächer Sport, Musik, Kunst oder auch Mathematik, weil die Sprachkenntnisse hier nicht so im Vordergrund stehen. 
  • In einer dritten Phase gehen die geflüchteten Kinder ganz regulär zur Schule, haben aber noch Anspruch auf Förderunterricht und -hilfen wie etwa ein deutsch-deutsches Wörterbuch (Nachteilsausgleich) und die Anerkennung ihrer Muttersprache als Fremdsprache (Feststellungsprüfung). In vielen Bundesländern haben MigrantInnen auch mehr Zeit, um einen Schulabschluss zu erreichen.   

Ratschläge für die Begleitung von geflüchteten Kindern

Redaktion: Welche Ratschläge haben Sie für Ehrenamtliche, die Kinder begleiten? 

Rasmus Althaus: Kinder und Jugendliche lernen Fremdsprachen in der Regel viel schneller als Erwachsene. Anders als Erwachsene, die sich eher von Regeln leiten lassen, imitieren Kinder das Gehörte und leiten sich so Regeln ab, die sie anwenden. Oft wird die entsprechende Äußerung nicht ganz korrekt sein, aber genau aus diesen Fehlern – und im besten Fall einer kleinen Korrektur – lernen die Kinder. Je älter die Kinder werden, desto eher werden sie den Zugang zur Sprache über grammatikalische Regeln suchen, aber auch ihren spielerischen Zugang dazu verlieren. 

Sie sollten grundsätzlich Ihre Hilfe auf die Frage konzentrieren, wie Sie die Schullaufbahn befördern können. Manchmal kommt es dabei weniger auf das Lernen, sondern auf Strukturen im Alltag und bestimmte Verhaltensweisen an. Auch die Eltern spielen eine wichtige Rolle. Machen Sie den Kindern und den Eltern klar, wie wichtig die Schule ist! Gerade Kinder von MigrantInnen vernachlässigen oft die Schule, weil sie ihre Eltern etwa auf Ämter oder zu Ärzten begleiten müssen. Unter Umständen müssen Sie die SchülerInnen darin unterstützen, für eine gewisse Zeit am Tag einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu haben, an dem sie ungestört ihre Hausaufgaben erledigen können. Besonders die Mädchen haben oft Aufgaben im Haushalt und mit kleineren Geschwistern zu erfüllen. Machen Sie deutlich, dass die Schule Vorrang hat. Sie müssen die Kinder und Eltern darauf aufmerksam machen, wie wichtig ausgesprochene und unausgesprochene Regeln wie etwa Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sind. Manche Eltern sind eventuell nicht mit den Abläufen in der Schule vertraut – zeigen Sie ihnen die Hausaufgabenhefte der Kinder, machen Sie ihnen klar, dass sie am Bildungserfolg ihrer Kinder mitwirken müssen! 

Die Schule ist für geflüchtete Kinder ein besonders wichtiger Ort, an dem sie lernen, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Unter Umständen sind  nicht alle Eltern mit der Wichtigkeit der Schule vertraut. Machen Sie deutlich, dass der Schulbesuch der Kinder sehr wichtig ist und Vorrang vor anderen Aufgaben hat.  

Redaktion: Welche praktischen Tipps ergeben sich daraus? 

Rasmus Althaus: Generell gilt, dass Sie, wenn möglich, das Gespräch mit den Lehrkräften suchen und nach geeigneten Zusatzmaterialien fragen sollten. Oft können die Lehrkräfte in den Willkommensklassen nicht alle Niveaus gleichzeitig berücksichtigen und die schwächeren SchülerInnen schreiben die Aufgaben und Übungen lediglich ab. Das wiederholt sich in den Regelklassen auch bei den stärkeren SchülerInnen. Wiederholen Sie die Übungen, die Sie in Heften und Büchern finden (aber arbeiten Sie nicht vor). Nehmen Sie sich die Zeit, die im Unterricht fehlt und erklären Sie den Kindern noch einmal die neuen Wörter oder Inhalte. Lassen Sie die Kinder noch einmal ohne Zeitdruck alles vorlesen (bei AnfängerInnen) oder in eigenen Worten erklären oder kommentieren (bei fortgeschrittenen Lernenden).  Es ist ebenfalls wichtig, dass Sie den SchülerInnen klarmachen, wie wichtig das Einhalten der Schulregeln ist, unabhängig davon, wie gut sie schon Deutsch sprechen. Das Verhalten im Unterricht und in der Schule entscheidet oft mindestens so sehr über die Schullaufbahn wie die Leistungen im Unterricht.  

Am Anfang können Sie sich darum kümmern, dass die Kinder alle Materialien haben. Gehen Sie vielleicht gemeinsam Hefte und Stifte einkaufen und üben Sie gleichzeitig die entsprechenden Wörter. Die Gegenstände im Klassenzimmer sind meist die ersten neuen Vokabeln. Versuchen Sie zu allen Inhalten aus dem Lehrbuch praktische oder anwendbare Beispiele zu finden. Gehen Sie in den Supermarkt, fahren Sie gemeinsam mit dem Bus, benennen Sie Gegenstände in der Wohnung, Pflanzen im Park und so weiter. Die Unterrichtszeit reicht oft nur für das Wichtigste – versuchen Sie den Lernstoff mit Leben zu füllen! Noch ein Tipp für außerhalb des Klassenzimmers: Ermutigen Sie die SchülerInnen dazu, einen Sportverein zu suchen - wenn möglich mit SchulfreundInnen. Es ist ganz wichtig, dass die Kinder möglichst viele und vielfältige Berührungspunkte mit der neuen Sprache haben. Außerdem ist ein Freundeskreis, in dem Deutsch geredet wird, besser als jeder Unterricht. Helfen Sie aktiv bei der Suche und gehen Sie das erste Mal mit zum Training, die Schwelle ist oft groß. Viele Kommunen unterstützen dies finanziell.  

Mit fortgeschrittenen SchülerInnen können Sie gemeinsam die Bibliothek besuchen und einen Ausweis machen lassen. Hier können sie oft auch ungestört arbeiten und internetfähige Rechner nutzen.  Ermutigen Sie die Kinder zur Geduld. Es dauert meist mehrere Jahre, bis die geflüchteten Kinder alle Anforderungen des Regelunterrichts erfüllen können. Die KlassenkameradInnen werden daher oft jünger sein. Loben Sie die SchülerInnen: In einer Fremdsprache zu lernen, ist eine gewaltige Leistung!


Das Bildungspaket (Bildung und Teilhabe) soll Kindern aus einkommensschwachen Haushalten volle Teilhabe am schulischen Leben ermöglichen. Finanziert werden unter anderem die Kosten für Ausflüge, Klassenfahrten, Unterrichtsmaterialien, die Mitgliedschaft in Sportvereinen, Nachhilfe und so weiter. Für die Antragsverfahren sind die Kommunen zuständig, in der Regel über die Jobcenter oder die Bürgerämter. 

  

Weiterführendes Material


 

Rasmus Althaus unterrichtet seit mehr als zehn Jahren Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an Schulen und Universitäten im In- und Ausland. Seit dem Schuljahr 2015/2016 betreut er eine Willkommensklasse an einer weiterführenden Schule in Leipzig. Die Fragen stellte die Redaktion des vhs-Ehrenamtsportals.

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Und was gibt es in Ihrer Stadt?

Welche Aktivitäten und Hilfen gibt es in Ihrer Stadt für geflüchtete Kinder? Was hat den geflüchteten Kindern, die Sie betreuen, beim Ankommen im deutschen Schulsystem besonders geholfen? Haben Sie einen Tipp unseres Experten vielleicht sogar schon umgesetzt? Schreiben Sie Ihre Antwort in die Kommentare und tauschen Sie sich aus!